Nix verstehn in Berlin?! Test belegt: Internet-Seiten der Ministerien sind häufig unverständlich [03.09.2009]
Mit Sprachsoftware und Wirklichkeitstest: Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim vergeben miese Deutsch-Noten an Deutschlands Ministerien. Dabei wären verständliche Texte so einfach. Der Mangel lässt sich in Prozent ausdrücken: Um 16 bis 30 und stellenweise sogar über 50 Prozent ließe sich die Verständlichkeit der Ministerien steigern, wenn die Verfasser ein paar einfache Regeln beachten würden. Für ihre Untersuchung hatten die Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim über 200 Personen die Originaltexte und optimierte Versionen aus vier Bundesministerien vorgelegt.
Wie schlecht die Texte sind, die Deutschlands Ministerien ins Internet stellen, hat die
Kommunikationswissenschaftler selbst überrascht: „Möglichst wenig Fremdwörter, kurze Sätze, einfache
Satzstruktur und ein logisch aufgebauter Text mit Zwischenüberschriften – das sollte bei komplexen Inhalten und gerade im Internet Standard sein“, so Kommunikationswissenschaftler Jan Kercher. Doch in Berliner Ministerien scheint sich das noch nicht herumgesprochen zu haben – unabhängig davon, welche Partei das jeweilige Haus gerade führt.
Ein Beispiel gefällig? „Das Bundeskabinett hat heute den Entwurf einer Formulierungshilfe für einen Änderungsantrag zur Ausweitung der Schutzklausel bei der Rentenanpassung beschlossen.“ Das ist der Einstiegssatz des Info-Textes Schutz vor Rentenkürzungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. „Alle Klarheiten beseitigt?“ fragt Dr. Anikar Haseloff, Experte für Usability- und Verständlichkeitsforschung am Lehrstuhl von Prof. Dr. Frank Brettschneider. „Wer diesen Satz liest, hat schon längst weggeklickt. Denn der Satz besteht fast nur aus Substantiven.“
Ihren Testpersonen legten Kercher und sein Projekt-Team die folgende optimierte Version zum Vergleich
vor: „Die Bundesregierung hat heute den Entwurf zu einem Gesetz beschlossen, das die Höhe der Rente
schützen soll.“ Verständnis-Gewinn bei den Testpersonen: in diesem Fall über 50 Prozent. Durchgeführt wurde die Studie im Rahmen eines Forschungsprojektes, das sich speziell mit der Verständlichkeit von Parteien und Politikern beschäftigt. Dazu durchforstete Kercher mit seinen Kollegen die Internet-Auftritte aller 14 Bundesministerien und des Bundeskanzleramts und suchte kurze, aber unverständliche Texte aus. Mit spezieller Analyse-Software identifizierten die Forscher die schlimmsten sprachlichen Untiefen, um die Texte dann zu optimieren.
Der Versuch selbst war im Ansatz sehr simpel: Im Praxistext baten die Forscher insgesamt 227 Teilnehmer vor den PC, um (in getrennten Gruppen) Original und Optimierung von vier der 15 untersuchten Texte zu lesen. Nach jeder Lektüre stellten sie den Teilnehmern Verständnisfragen. Sowohl die subjektive Einschätzung der Probe-Leser als auch das objektive Verständnis wurden abgefragt. Daraus errechneten die Kommunikationsexperten einen Verständnisindex. Der Werte-Vergleich von Original und Optimierung ergab den Verständnis-Zuwachs für den verbesserten Text.
Verständlichere Texte für alle
Um 16 bis 49 Prozent sei das Verständnis dabei gegenüber dem Originaltext gesteigert worden, so Kerchers abschließende Auswertung. Besonders deutlich sei der Effekt beim zitierten Text des Bundesarbeitsministeriums zur Rentenkürzung. Auch die subjektive Verständlichkeitsbewertung konnte bei diesem unverständlichen Pamphlet um mehr als die Hälfte gesteigert werden. Verblüfft hat die Experten ein weitere Ergebnis der Studie: Der Verständnis-Gewinn war für alle Teilnehmer ähnlich groß. „Ob mit höherer Bildung oder ohne, mit oder ohne Interesse für Politik: Alle untersuchten Wählergruppen profitierten von dem verbesserten Text“, so der Leiter der Studie.
Auch dass sich die Parteiidentifikation nicht systematisch auf die Verständlichkeitsbewertung auswirkte, hätte Studienleiter Kercher nicht erwartet: „Selbst wer sich stark mit einer der Regierungsparteien identifiziert, findet deren Texte nicht automatisch verständlicher. Im Gegenteil, die Regierungsanhänger bewerteten die Texte des Kanzleramts und der Ministerien häufig sogar schlechter als Oppositionsanhänger und Parteiungebundene.“ Ein Befund, der der Bundesregierung zu denken geben sollte.
Hintergrund: Automatische Textanalyse
Um die Texte zu verbessern verwendeten die Wissenschaftler die Software TextLab, die vom CommunicationLab Ulm entwickelt wurde und vom Lehrstuhl für Forschungszwecke eingesetzt wird. Dabei handelt es sich um eine Analyse-Software, die gezielt auf Problemstellen in Texten hinweist – wie zum Beispiel schwierige Wörter und komplexe Sätze. Danach machten sich die Wissenschaftler daran, zu kürzen, zu ersetzen und zu vereinfachen.
Alle untersuchten Texte im Original und optimiert (pdf)
Blog-Beitrag auf Wahlen-nach-Zahlen
Medienspiegel (Auswahl): bildungsklick.de [03.09.09], SWR3 [30.01.10]