Unverständliche Wahlprogramme: Parteitexte in Hamburg sind meist nur schwer verständlich [11.02.2015]

Fremdwörter, Anglizismen und überlange Sätze: Kurz vor der Bürgerschaftswahl in Hamburg haben Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim die Wahlprogramme der Parteien auf ihre formale Verständlichkeit hin überprüft. Ihr Ergebnis ist ernüchternd.

Am unverständlichsten formuliere die „Piratenpartei“: „Ihr Wahlprogramm in Hamburg ist fast so unverständlich wie eine politikwissenschaftliche Doktorarbeit“, sagt Prof. Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim. Das Programm der CDU sei für den Durchschnittswähler noch am verständlichsten. Alle anderen Parteien lägen dazwischen. Als Hürden für die Verständlichkeit identifizieren die Wissenschaftler u.a. komplizierte Schachtelsätze, Fachbegriffe und Fremdwörter. Die Forscher analysierten die Wahlprogramme der Parteien zu den Landtagswahlen mit der speziellen Verständlichkeits-Software „TextLab“.

 

Wissenschaftlicher Check mit Spezial-Software

Was bitte sind „Waste Watcher“ (SPD)? Was ist eine „Nichtabwälzung“ (AfD)? Was bedeuten „Running Eco Heat“ (Piraten), „Gender Budgeting“ (SPD) und „Display-Infoflächen-Touchscreens“ (FDP)? Auch Wortzusammensetzungen wie „Verkehrsmanagementeinrichtungen“ (Grüne), „Luftfahrtforschungskompetenz“ (SPD), „Fahrrinnenanpassung“ (FDP) und „Sonderbedarfszulassungen“ (SPD) erhöhen nicht gerade die Lesbarkeit der Wahlprogramme. Was vielen Bürgern an Politik unverständlich und intransparent vorkommt, wollen Prof. Dr. Frank Brettschneider und Claudia Thoms, M.Sc., vom Lehrstuhl Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim in genauen Zahlen ausdrücken. In einem langfristigen Forschungsprojekt haben sie gemeinsam mit der Agentur H&H CommunicationLab die formale Verständlichkeit von 145 Wahlpro-grammen bei 25 Wahlen untersucht. Konkret fahndeten die Wissenschaftler unter anderem nach Satz-Ungetümen (Sätze ab 20 Wörtern und Schachtelsätze), Fachbegriffen und Fremdwörtern. Anhand dieser Merkmale bilden sie den „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“. Er reicht von 0 (völlig unverständlich) bis 20 (sehr verständlich). 

 

Hamburgs Verständlichkeit knapp über dem Schnitt aller Landtagswahlen

Am verständlichsten für die Wählerinnen und Wähler waren bislang die Programme bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2012: Sie erreichen im Schnitt 9,4 Punkte auf dem Hohenheimer Verständlichkeitsindex. Die Landtagswahlprogramme in Sachsen erreichen mit 6,7 hingegen das zweitschlechteste Ergebnis, das die Hohenheimer Wissenschaftler je für Wahlprogramme gemessen haben. Nur die Programme zur Europawahl 2009 waren noch unverständlicher (6,6). Mit einem Wert von 8,3 liegen die Hamburger Wahlprogramme im Mittelfeld und knapp über dem Durchschnittswert von 8,0 für alle Landtagswahlen, die bislang untersucht wurden. In Hamburg lieferte die CDU das formal verständlichste Wahlprogramm (9,9), vor der SPD (9,3) und den Grünen (8,9). Die Piratenpartei hat mit einem Wert von 5,8 das formal unverständlichste Wahlprogramm. Das Problem dahinter: „Wer nicht verstanden wird, kann auch nicht überzeugen“, sagt Prof. Dr. Frank Brettschneider. „Ohne ein hohes Bildungsniveau oder politisches Fachwissen sind einige Inhalte der Programme zur Bürgerschaftswahl für viele Menschen nur schwer verständlich.“

 

Fachchinesisch und Bandwurmsätze

„Bei sämtlichen Parteien finden sich Verstöße gegen grundlegende Verständlich-keitsregeln“, urteilt Prof. Dr. Frank Brettschneider. „Vor allem die Wortwahl der Parteien trägt zur Komplexität der Texte bei“, sagt Claudia Thoms. Grund: Die Wortwahl sei meist das Ergebnis von innerparteilichen Expertenrunden. Deren bürokratische Fachsprache verwendeten die Parteien dann auch in ihren Wahlprogrammen. An den Bedürfnissen der Leserinnen und Leser, die sich nicht tagtäglich mit diesen Themen beschäftigen, schrieben sie damit vorbei. Auch die Verwendung von Anglizismen und von „Denglisch“ (deutsch-englische Begriffe) erschwere das Verständnis – zumindest für einige Wählergruppen. „Smart City Rankings“ (SPD), „Business Angels“ (FDP) und „Top-Runner-Programm“ (Piratenpartei) verstünden nur einige Menschen. Das Gleiche gelte für „Bodycams“ (AfD), „Power Barge“ (SPD) oder „Racial Profiling“ (Piratenpartei). „Auch zu lange Sätze erschweren das Verständnis – vor allem für Wenig-Leser“, sagt Claudia Thoms. Dennoch fanden die Hohenheimer Forscher bei allen Parteien überlange Sätze. 30 bis 40 Wörter pro Satz waren keine Seltenheit. 

 

„Hamburg“ und „Menschen“ vorn

In der Wortwahl sind sich einige Programme ähnlich: „Hamburg“ bildet den begrifflichen Mittelpunkt der Wahlprogramme aller Parteien. Auch die „Stadt“ und ihre „Bürger“ sowie „Menschen“ sind häufig verwendete Begriffe. Bei den Linken, der Piratenpartei und der AfD kommen dann vor allem sie selbst: Sie nennen ihre Parteinamen besonders häufig. Und wie schon bei früheren Analysen beobachtet, gilt auch in Hamburg: Die Oppositionsparteien verwenden häufig ein forderndes Vokabular. Beispiele sind Wörter wie „mehr“, „müssen“, „fordern“ und „sollen“

 

Hintergrund: Der Hohenheimer Wahlprogramm-Check

Die Wahlprogramme sind ein Kommunikationsmittel der Parteien, um die eigenen Positionen darzulegen. Seit 2009 untersucht das Fachgebiet für Kommunikations-wissenschaft (insbes. Kommunikationstheorie) an der Universität Hohenheim im „Wahlprogramm-Check“ in Kooperation mit der Ulmer Agentur für Verständlichkeits-messung H&H CommunicationLab u.a. folgende Fragen: Kommunizieren die Par-teien in ihren Wahlprogrammen so verständlich, dass die Wahlberechtigten sie verstehen können? Welche Verständlichkeits-Hürden finden sich in den Wahlprogrammen? Und welche Themen und Begriffe dominieren in den Programmen? Möglich werden diese Analysen durch die von H&H Communication Lab GmbH und von der Universität Hohenheim entwickelte Verständlichkeitssoftware „TextLab“. Diese Software berechnet verschiedene Lesbarkeitsformeln sowie Textfaktoren, die für die Verständlichkeit relevant sind (z.B. Satzlängen, Wortlängen, Schachtelsätze und den Anteil abstrakter Wörter). Aus diesen Werten setzt sich der „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ zusammen, der die Verständlichkeit der Programme und Texte auf einer Skala von 0 (unverständlich) bis 20 (sehr verständlich) abbildet. Zum Vergleich: Doktorarbeiten in Politikwissenschaft haben eine durchschnittliche Verständlichkeit von 4,3 Punkten. Politik-Beiträge in der Bild-Zeitung kommen im Schnitt auf 16,8 Punkte, Politik-Beiträge überregionaler Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt oder der Süddeutschen Zeitung auf Werte zwischen 11 und 14.

 

Kompletter Wahlprogramm-Check als PDF