Landtagswahlen 2016: „Die Wahlprogramme sind so unverständlich wie eine Doktorarbeit“   [07.03.16]

Verständlichkeits-Check der Universität Hohenheim: Analyse zu den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz.

Satz-Monster, Fachwörter & Anglizismen sind in allen Parteiprogrammen zu finden | Quelle: Universität Hohenheim

 

Komplizierte Fremdwörter, „Denglish“ und Monster-Sätze: Kurz vor den Landtagswahlen 2016 in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz haben Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim die Wahlprogramme der Parteien auf ihre formale Verständlichkeit hin untersucht. Ihr Ergebnis: Die Programme sind sprachlich so kompliziert wie eine Doktorarbeit. Die Studie im Detail unter www.uni-hohenheim.de/presse

Einen Gewinner gibt es bei der formalen Verständlichkeit der Wahlprogramme nicht wirklich. „Zwar hat die Linke in Baden-Württemberg bei diesen Landtagswahlen das formal verständlichste Wahlprogramm von allen abgeliefert“, sagt Prof. Dr. Frank Brettschneider, Kommunikationsexperte der Universität Hohenheim und Leiter der Studie. „In Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt belegen ihre Wahlprogramme aber den letzten Platz.“

Mit der Verständlichkeitssoftware „TextLab“ und anhand des Hohenheimer Verständlichkeitsindex können die Wissenschaftler den Grund für die Unverständlichkeit der Parteien nennen: Komplizierte und unverständliche Fach- und Fremdwörter, Anglizismen, „Denglish“ und Satz-Monster ab 20 Wörtern (Bandwurmsätze und Schachtelsätze). Die Probleme der Wahlprogramme haben Prof. Dr. Brettschneider und Claudia Thoms, M.Sc., vom Lehrstuhl Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim in Zahlen ausgedrückt. Der Hohenheimer Verständlichkeitsindex reicht von 0 (völlig unverständlich) bis 20 (sehr verständlich). Er wird von der Software „TextLab“ berechnet.

Analysiert wurden CDU, SPD, FDP, Bündnis ’90 Die Grünen, Die Linke, die AfD und die Piratenpartei. Berücksichtig wurden die Parteien, die entweder im Deutschen Bundestag oder in mindestens drei Landtagen vertreten sind. Das langfristige Forschungsprojekt ist eine Kooperation mit der Agentur H & H CommunicationLab aus Ulm.

 

Fremdwörter, Anglizismen & Satz-Monster

Was meint die AfD in Baden-Württemberg, wenn sie von einer „Frühsexualisierung“ spricht? Oder die Grünen in Rheinland-Pfalz bei einem „Wolfsmanagementplan“ oder einer „SchwulLesbischBiTrans-Aufklärung“? Neben diesen Wortkomposita erhöhen auch lange Wortzusammensetzungen wie „Schwangerschaftskonfliktberatung“ (AfD, Baden-Württemberg), „Seniorensicherheitsberaterinnen“ (SPD, Rheinland-Pfalz) oder „Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung“ (Die Linke, Sachsen-Anhalt) nicht gerade die Lesbarkeit der Wahlprogramme.

In allen drei Bundesländern verstoßen die Wahlprogramme gegen Verständlichkeits-Regeln. „Neben den Fremdwörtern, Anglizismen und Fachbegriffen sind es auch die Bandwurmsätze, die die Wahlprogramme so unverständlich machen“, sagt der Kommunikationsexperte. „Wir haben in allen Wahlprogrammen solche Satz-Ungetüme ab 30 Wörtern und mehr gefunden.“

Trotzdem seien nicht alle Passagen gleich unverständlich, so Prof. Dr. Brettschneider. „Gerade Einleitung, Schluss und die Kritik an den politischen Kontrahenten sind klar verständlich formuliert. Es sind vor allem die Fachabschnitte, die oft sehr kompliziert sind.“

 

Die Linke: Vorne in Baden-Württemberg, am unverständlichsten in Rheinland-Pfalz

Im Schnitt zeigt sich: Die aktuellen Wahlprogramme aus Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz sind im Vergleich weder besser noch schlechter verständlich als die Programme anderer Parteien in den anderen Bundesländern. „Mit einem Durchschnitt von 7,9 (Baden-Württemberg), 7,8 (Sachsen-Anhalt) und 7,6 (Rheinland-Pfalz) liegt die Verständlichkeit der Parteien in den drei Bundesländern nahe bei einander“, erklärt Prof. Dr. Brettschneider.

„Das ist aber nicht unbedingt ein Pluspunkt, da sie deutlich näher am Verständlichkeitsniveau einer Doktorarbeit (4,1) sind“, sagt auch Claudia Thoms. „Zum Vergleich: Politik-Beiträge der BILD-Zeitung haben eine durchschnittliche Verständlichkeit von 16,8.“

Das formal verständlichste Wahlprogramm liefert mit 9,7 Punkten auf dem Hohenheimer Verständlichkeitsindex die Linke in Baden-Württemberg. In Rheinland-Pfalz und in Sachsen-Anhalt landen sie jedoch auf dem letzten Platz. Ihr Programm in Rheinland-Pfalz ist sogar das insgesamt unverständlichste der drei analysierten Wahlen (5,6 Punkte). An zweiter und dritter Stelle bei der formalen Verständlichkeit liegen mit 9,2 Punkten die SPD in Rheinland-Pfalz und mit 9,1 Punkten die CDU in Baden-Württemberg.

 

Regierungsparteien setzen auf positive Formulierungen

Die Wahlprogramme von Regierungs- und von Oppositionsparteien unterscheiden sich hingegen kaum voneinander. Trotzdem zeichne sich eine gewisse Tendenz ab, so Prof. Dr. Brettschneider: „Die Parteien schreiben in der Opposition im Schnitt etwas verständlicher als in der Regierung. Auch nutzen sie mit Wörtern wie „müssen“, „mehr“ und „sollen“ eher fordernde Formulierungen.“ Die Regierungsparteien hingegen setzen auf positive Wörter wie „unterstützen“, „fördern“ oder „stärken“.

Bei den Begriffen, die häufig in den Wahlprogrammen genannt werden, ähneln sich die meisten Wahlprogramme, erklärt Claudia Thoms. „Begriffe wie „Menschen“ und „Land“ sind besonders häufig zu finden. Lediglich in den Wahlprogrammen der Grünen in Sachsen-Anhalt sowie der Linken und der AfD im Allgemeinen wird der Parteiname noch häufiger genannt.“

Nach 17 analysierten Landtagswahlen seit 2010 belegen CDU, SPD und Die Grüne die ersten drei Plätze in Bezug auf die durchschnittliche Verständlichkeit. Auf dem letzten Platz landen die Piratenpartei, die AfD und die FDP. „Zwischen der erstplatzierten und der letztplatzierten Partei liegen aber gerade einmal 1,8 Punkte“, betont Claudia Thoms.

 

Unverständlichkeit der Wahlprogramme – eine verschenkte Kommunikationschance

Mit der formalen Unverständlichkeit verschenken die Parteien eine Kommunikationschance bei den Bürgern, stellt Prof. Dr. Frank Brettschneider fest. „Obwohl nur sehr wenige Menschen die Wahlprogramme komplett und intensiv durchlesen, sollen Wahlprogramme eigentlich dazu dienen, Wähler zu gewinnen oder zu halten. Neben der formalen Verständlichkeit sollte es sich also von den Programmen der Gegner zumindest teilweise inhaltlich unterscheiden. Vor allem soll das Programm auf Themen hinweisen, die für die Partei erfolgversprechend sind.“

Aus den Programmen leiten sich außerdem andere Kommunikationsmaßnahmen ab, die für eine Wahl entscheidend sind: Wahlplakate, Flyer und Broschüren. „Selbst wenn die Wähler nicht das gesamte Programm lesen, so schauen sich einige von ihnen doch zumindest die Passagen an, die sich auf Themen beziehen, die ihnen wichtig sind“, sagt Prof. Dr. Brettschneider.

Neben der Funktion, Wähler zu halten oder neue zu gewinnen, sind die Programme auch innerhalb der Partei von Bedeutung, betont Prof. Dr. Brettschneider. „Das Programm soll der Selbstverständigung einer Partei dienen: Während der Arbeit am Programm klären die Mitglieder innerparteiliche Positionen und bündeln verschiedene Interessen. Der Parteiführung dient das Programm nach der Wahl als Grundlage für Koalitionsverhandlungen oder für die Arbeit in der Opposition. Entgegen landläufigen Behauptungen halten sich Parteien nach den Wahlen auch häufig an ihre Programm-Aussagen.“

 

Wahlprogramme aus Sicht von Parteimitgliedern

Wie Parteimitglieder Wahlprogramme wahrnehmen, ist bislang kaum erforscht. Bei einer Online-Umfrage der Universität Hohenheim 2010 gaben 828 Parteimitglieder an, vor allem die Kurzversion des Wahlprogramms für ein wichtiges Wahlwerbemittel zu halten, die nützlicher, besser gestaltet, überzeugender, interessanter und verständlicher ist als die Langfassung. Lediglich die Mitglieder der Grünen stufen die Langversion als sehr wichtig ein.

„Fast 50 Prozent der befragten Parteimitglieder gaben an, die Kurzversion „ihres“ Wahlprogramms vollständig gelesen zu haben“, so Prof. Dr. Brettschneider. „Von der Langversion behaupten das nur 16 Prozent. Zwölf Prozent der Mitglieder geben aber auch zu, die Langversion noch nicht einmal in Auszügen gelesen zu haben; bei der Kurzversion sind dies nur vier Prozent.“

Parteiübergreifend werden die Kurzfassungen als ein wirksames Wahlwerbemittel gesehen: Sie erfüllen aus Sicht der Parteimitglieder am stärksten die Funktion, die Wähler von der Wahl der jeweiligen Partei zu überzeugen. Diese Funktion wird den Langfassungen am wenigsten zugesprochen. „Die Langfassungen gelten unter den Mitgliedern als Instrument, um dem Wahlkampf eine Richtung zu geben und um in eventuellen Koalitionsverhandlungen eine Richtlinie zu haben“, erklärt der Kommunikationsexperte. „Diese Funktion wird den Kurzfassungen am wenigsten zugesprochen. Es gibt also eine klare „Arbeitsteilung“ zwischen den Lang- und den Kurzfassungen.“

 

Hintergrund: Der Hohenheimer Wahlprogramm-Check

Die Wahlprogramme sind ein Kommunikationsmittel der Parteien, um die eigenen Positionen darzulegen. Seit 2009 untersucht das Fachgebiet für Kommunikationswissenschaft (insbes. Kommunikationstheorie) an der Universität Hohenheim im „Wahlprogramm-Check“ in Kooperation mit der Ulmer Agentur für Verständlichkeitsmessung H&H CommunicationLab u.a. folgende Fragen: Kommunizieren die Parteien in ihren Wahlprogrammen so verständlich, dass die Wahlberechtigten sie verstehen können? Welche Verständlichkeits-Hürden finden sich in den Wahlprogrammen? Und welche Themen und Begriffe dominieren in den Programmen?

Möglich werden diese Analysen durch die von H&H Communication Lab GmbH und von der Universität Hohenheim entwickelte Verständlichkeitssoftware „TextLab“. Diese Software berechnet verschiedene Lesbarkeitsformeln sowie Textfaktoren, die für die Verständlichkeit relevant sind (z.B. Satzlängen, Wortlängen, Schachtelsätze und den Anteil abstrakter Wörter).

Aus diesen Werten setzt sich der „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ zusammen, der die Verständlichkeit der Programme und Texte auf einer Skala von 0 (unverständlich) bis 20 (sehr verständlich) abbildet. Zum Vergleich: Doktorarbeiten in Politikwissenschaft haben eine durchschnittliche Verständlichkeit von 4,3 Punkten. Politik-Beiträge in der Bild-Zeitung kommen im Schnitt auf 16,8 Punkte, Politik-Beiträge überregionaler Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt oder der Süddeutschen Zeitung auf Werte zwischen 11 und 14.

Text: C. Schmid / Klebs

Kontakt für Medien:

Prof. Dr. Frank Brettschneider, Fg. Kommunikationswissenschaft, insb. Kommunikationstheorie, T 0711/459-24030, E frank.brettschneider@uni-hohenheim.de


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