Wahl in Berlin: „Einige Wahlprogramme sind nur sehr schwer verständlich“ [12.09.16]
Verständlichkeits-Check der Universität Hohenheim: Analyse zur Berliner Abgeordnetenhauswahl 2016. Komplizierte Fremdwörter, „Denglish“ und Monster-Sätze: Kurz vor der Abgeordnetenhauswahl 2016 in Berlin haben Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim die Wahlprogramme der Parteien auf ihre formale Verständlichkeit hin untersucht. Ihr Ergebnis: Einige Programme sind sprachlich fast so kompliziert wie eine Doktorarbeit.Einen Gewinner gibt es bei der formalen Verständlichkeit der Wahlprogramme nicht wirklich. „Zwar haben die Grünen in Berlin das formal verständlichste Wahlprogramm von allen vorgelegt“, sagt Prof. Dr. Frank Brettschneider, Kommunikationsexperte der Universität Hohenheim und Leiter der Studie. „Ein Wert von 10,6 auf dem Hohenheimer Verständlichkeits-Index lässt aber noch viel Raum nach oben.“
Anhand des Hohenheimer Verständlichkeits-Index und mit der Verständlichkeitssoftware „TextLab“ können die Wissenschaftler den Grund für die Unverständlichkeit der Parteien nennen: Komplizierte und unverständliche Fach- und Fremdwörter, Anglizismen, „Denglish“ und Satz-Monster ab 20 Wörtern (Bandwurmsätze und Schachtelsätze). Die Probleme der Wahlprogramme haben Prof. Dr. Brettschneider und Claudia Thoms vom Lehrstuhl Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim in Zahlen ausgedrückt. Der Hohenheimer Verständlichkeitsindex reicht von 0 (völlig unverständlich) bis 20 (sehr verständlich). Er wird von der Software „TextLab“ berechnet.
Analysiert wurden CDU, SPD, FDP, Bündnis 90 / Die Grünen, Die Linke, die AfD und die Piratenpartei. Berücksichtigt wurden Parteien, die entweder im Deutschen Bundestag oder in mindestens drei Landtagen vertreten sind. Das langfristige Forschungsprojekt ist eine Kooperation mit der Agentur H & H CommunicationLab aus Ulm.
Fremdwörter, Anglizismen und Satz-Monster
Was meinen die Grünen, wenn sie von „Gehwegvorstreckungen“ sprechen? Oder die CDU von „Unterflurbehältern“, die SPD vom „Konnexitätsprinzip“, die Linke von „Soloselbstständigen“ und die FDP von „Umwegrentabilität“? Solche Fachbegriffe sind für die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler genauso unverständlich wie die zahlreichen Anglizismen, für die sich besonders die CDU begeistert: „Shared Service Center“, „Cross Clustering“, „Share Deals“ und „College Teams“. Aber auch bei den anderen Parteien finden sich schwer verständliche Anglizismen: „Entrepreneurship Education“ (FDP), „Chilling Effects“ (FDP), „City-Lab“ (SPD), „Gender Budgeting“ (SPD), „No-go-Areas“ (AfD), „Deep Packet Inspection“ (Piraten), „Clean Tech Park“ (Grüne), „Green-Fashion-Hub“ (Grüne).
Darüber hinaus erhöhen auch lange, zusammengesetzte Wörter nicht gerade die Lesbarkeit der Wahlprogramme: „Mindestschuldentilgungsziele“ (FDP), „Gesundheitsversorgungslandschaften“ (CDU), „Ordnungswidrigkeitentatbestände“ (Linke), „Bioabfallbehandlungsanlage“ (Grüne), „Mietenvolksentscheid-Initiative“ (SPD).
In allen Wahlprogrammen finden sich Verstöße gegen Verständlichkeits-Regeln. „Neben den Fremdwörtern, Anglizismen und Fachbegriffen sind es auch die Bandwurmsätze, die die Wahlprogramme so unverständlich machen“, sagt der Kommunikationsexperte. „Wir haben in allen Wahlprogrammen solche Satz-Ungetüme mit mehr als 40 Wörtern gefunden.“
Berlin im Ländervergleich auf Platz 4
Im Schnitt zeigt sich: Die aktuellen Wahlprogramme aus Berlin sind im Vergleich weder deutlich besser noch schlechter verständlich als die Programme anderer Parteien in anderen Bundesländern. Mit einem Durchschnitt von 8,6 liegen die Berliner Wahlprogramme auf Platz 4 im Ländervergleich – gleichauf mit den Programmen zur Bayerischen Landtagswahl 2013.
„Das ist aber nicht unbedingt ein Pluspunkt, da sie deutlich näher am Verständlichkeitsniveau einer politikwissenschaftlichen Doktorarbeit (4,3) sind“, sagt auch Claudia Thoms. „Zum Vergleich: Politik-Beiträge der BILD-Zeitung haben eine durchschnittliche Verständlichkeit von 16,8.“
Die Landtagswahl mit den im Schnitt formal verständlichsten Programmen war 2012 die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen (9,4 Punkte). Die formal unverständlichsten Programme fanden sich 2014 bei der Landtagswahl in Sachsen (6,7 Punkte).
Fordernde Wortwahl bei allen Parteien
Bei den Begriffen, die häufig in den Wahlprogrammen genannt werden, ähneln sich die meisten Wahlprogramme, erklärt Claudia Thoms. „Begriffe wie „Menschen“, „Berlin“ und „Berliner“ sind besonders häufig zu finden. Lediglich in den Wahlprogrammen der AfD und der Piraten wird zudem der Parteiname besonders häufig genannt.“
Alle Parteien wollen „mehr“, sie „fordern“ oder setzen sich „dafür“ ein, es „müssen“ und es „sollen“ bestimmte Dinge geschehen. Diese fordernde Wortwahl ist generell typisch für die Sprache von Wahlprogrammen
Unverständlichkeit der Wahlprogramme – eine verschenkte Kommunikationschance
Mit der formalen Unverständlichkeit verschenken die Parteien eine Kommunikationschance bei den Bürgerinnen und Bürgern, stellt Prof. Dr. Frank Brettschneider fest. „Obwohl nur sehr wenige Menschen die Wahlprogramme komplett und intensiv durchlesen, sollen Wahlprogramme eigentlich dazu dienen, Wählerinnen und Wähler zu gewinnen oder zu halten. Neben der formalen Verständlichkeit sollte es sich also von den Programmen der Gegner zumindest teilweise inhaltlich unterscheiden. Vor allem soll das Programm auf Themen hinweisen, die für die Partei erfolgversprechend sind.“
Aus den Programmen leiten sich außerdem andere Kommunikationsmaßnahmen ab, die für eine Wahl entscheidend sind: Wahlplakate, Flyer und Broschüren. „Selbst wenn die Wähler nicht das gesamte Programm lesen, so schauen sich einige von ihnen doch zumindest die Passagen an, die sich auf Themen beziehen, die ihnen wichtig sind“, sagt Prof. Dr. Brettschneider.
Neben der Funktion, Wählerinnen und Wähler zu halten oder neue zu gewinnen, sind die Programme auch innerhalb der Partei von Bedeutung, betont Prof. Dr. Brettschneider. „Das Programm soll der Selbstverständigung einer Partei dienen: Während der Arbeit am Programm klären die Mitglieder innerparteiliche Positionen und bündeln verschiedene Interessen. Der Parteiführung dient das Programm nach der Wahl als Grundlage für Koalitionsverhandlungen oder für die Arbeit in der Opposition. Entgegen landläufigen Behauptungen halten sich Parteien nach den Wahlen auch häufig an ihre Programm-Aussagen.“
Wahlprogramme aus Sicht von Parteimitgliedern
Wie Parteimitglieder Wahlprogramme wahrnehmen, ist bislang kaum erforscht. Bei einer Online-Umfrage der Universität Hohenheim 2010 gaben 828 Parteimitglieder an, vor allem die Kurzversion des Wahlprogramms für ein wichtiges Wahlwerbemittel zu halten, die nützlicher, besser gestaltet, überzeugender, interessanter und verständlicher ist als die Langfassung. Lediglich die Mitglieder der Grünen stufen die Langversion als sehr wichtig ein.
„Fast 50 Prozent der befragten Parteimitglieder gaben an, die Kurzversion „ihres“ Wahlprogramms vollständig gelesen zu haben“, so Prof. Dr. Brettschneider. „Von der Langversion behaupten das nur 16 Prozent. Zwölf Prozent der Mitglieder geben aber auch zu, die Langversion noch nicht einmal in Auszügen gelesen zu haben; bei der Kurzversion sind dies nur vier Prozent.“
Parteiübergreifend werde die Kurzfassungen als ein wirksames Wahlwerbemittel gesehen: Sie erfüllen aus Sicht der Parteimitglieder am stärksten die Funktion, die Wähler von der Wahl der jeweiligen Partei zu überzeugen. Diese Funktion wird den Langfassungen am wenigsten zugesprochen. „Die Langfassungen gelten unter den Mitgliedern als Instrument, um dem Wahlkampf eine Richtung zu geben und um in eventuellen Koalitionsverhandlungen eine Richtlinie zu haben“, erklärt der Kommunikationsexperte. „Diese Funktion wird den Kurzfassungen am wenigsten zugesprochen. Es gibt also eine klare „Arbeitsteilung“ zwischen den Lang- und den Kurzfassungen.“
Hintergrund: Der Hohenheimer Wahlprogramm-Check
Die Wahlprogramme sind ein Kommunikationsmittel der Parteien, um die eigenen Positionen darzulegen. Seit 2009 untersucht das Fachgebiet für Kommunikationswissenschaft (insbes. Kommunikationstheorie) an der Universität Hohenheim im „Wahlprogramm-Check“ in Kooperation mit der Ulmer Agentur für Verständlichkeitsmessung H&H CommunicationLab unter anderem folgende Fragen: Kommunizieren die Parteien in ihren Wahlprogrammen so verständlich, dass die Wahlberechtigten sie verstehen können? Welche Verständlichkeits-Hürden finden sich in den Wahlprogrammen? Und welche Themen und Begriffe dominieren in den Programmen?
Möglich werden diese Analysen durch die von H&H Communication Lab GmbH und von der Universität Hohenheim entwickelte Verständlichkeitssoftware „TextLab“. Diese Software berechnet verschiedene Lesbarkeitsformeln sowie Textfaktoren, die für die Verständlichkeit relevant sind (z.B. Satzlängen, Wortlängen, Schachtelsätze und den Anteil abstrakter Wörter).
Aus diesen Werten setzt sich der „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ zusammen, der die Verständlichkeit der Programme und Texte auf einer Skala von 0 (unverständlich) bis 20 (sehr verständlich) abbildet. Zum Vergleich: Doktorarbeiten in Politikwissenschaft haben eine durchschnittliche Verständlichkeit von 4,3 Punkten. Politik-Beiträge in der BILD-Zeitung kommen im Schnitt auf 16,8 Punkte, Politik-Beiträge überregionaler Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt, der Süddeutschen Zeitung oder der taz auf Werte zwischen 11 und 14.
Text: Barsch / Töpfer
Kontakt für Medien:
Prof. Dr. Frank Brettschneider, Fachgebiet Kommunikationswissenschaft, insbes. Kommunikationstheorie,
T 0711/459-24030, E frank.brettschneider@uni-hohenheim.de