Wahlprogramm-Check 2009: Europawahl  [01.06.09]

Die Europawahl-Programme aller sechs im Bundestag vertretenen Parteien schneiden im Verständlichkeitstest deutlich schlechter ab, als zu erwarten war. Die Programme der SPD und der Grünen erreichen hierbei eine (Un)Verständlichkeit, die sich mit der sprachlichen Komplexität politikwissenschaftlicher Doktorarbeiten vergleichen lässt. Die einzige erwähnenswerte Ausnahme stellt das Wahlprogramm der CSU dar: Dessen Verständlichkeit liegt deutlich über den restlichen Parteien, wobei auch hier noch zahlreiche Verstöße gegen zentrale Regeln des verständlichen Schreibens zu verzeichnen waren.

Am besten lassen sich diese Defizite anhand einiger weniger Beispiele aus den Europawahlprogrammen demonstrieren. So versucht die SPD ihren Wählern die Bedeutung europäischer Politik mit folgenden Satzungetüm näher zu bringen: „Dort wo die Gestaltungskraft der Nationalstaaten in unserer zusammenwachsenden Welt mit neuen Abhängigkeiten und vernetzten Problemen an ihre Grenzen stößt, kann und muss Europa den Primat der Politik gegenüber den freien Kräften des Marktes behaupten und dem Wirtschaften im europäischen Binnenmarkt wie weltweit soziale und ökologische Regeln geben.“ Ähnlich überzeugend argumentieren die Grünen gegen die weitere Nutzung der Atomkraft: „Ein möglicher GAU, die nach wie vor ungelöste Endlagerfrage von Atommüll, der Handel mit Material für die militärischen Nutzung sowie nicht zu-letzt die fehlende Versicherungspflicht für mögliche Folgeschäden sprechen genau so gegen die weitere Nutzung der Atomenergie wie die Unfälle im schwedischen AKW Forsmark, den deutschen AKWs Brunsbüttel und Krümmel und der französischen Atomanlage Tricastin.“ Die Daumenregel des verständlichen Schreibens, möglichst keine Sätze mit mehr als 20 Wörtern zu verwenden, wird hierbei auf beeindruckende Weise missachtet (48 bzw. 55 Wörter).

Auch das verwendete Vokabular der Parteien dürfte so manchen Leser der Wahlprogramme zur Verzweiflung treiben: So finden sich in den Programmen der Linken, der Grünen und der FDP – vollkommen unkommentiert – folgende Begrifflichkeiten und Fachausdrücke: „Lissabon-Strategie“, „prekäre Beschäftigung“, „effektiver Multilateralismus“, „EU-weite Einspeiseregelung“. Spätestens hier wird der Anspruch, die Wahlprogramme richteten sich an den „normalen“ Bürger, äußerst fraglich. Die Stuttgarter Kommunalwahlprogramme schneiden im direkten Vergleich deutlich besser ab als die Europawahlprogramme. Allerdings kann man auch hier keineswegs von allgemeiner Verständlichkeit sprechen. Als Vergleichswert wurde die Verständlichkeit von Politik-Beiträgen aus der Bild-Zeitung herangezogen: Von diesen Werten, auch wenn sie einen zugegebenermaßen hohen Verständlichkeitsanspruch darstellen, sind alle Parteien meilenweit entfernt.

Trotz allem besteht durchaus Anlass zur Hoffnung: Denn zumindest die Grünen scheinen das Problem mittlerweile erkannt zu haben: Auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz Anfang Mai 2009 stellten einige Delegierte den Antrag, dass die grünen Wahlprogramme in Zukunft auch als leicht verständliche und bebilderte Kurzfassung erscheinen sollten. Es bleibt zu hoffen, dass die anderen Parteien diesem Beispiel folgen werden.

 

Hintergrund

In zwei Tagen sind die Bürgerinnnen und Bürger in Baden-Württemberg dazu aufgerufen, neben dem europäischen Parlament auch die Gemeinderäte neu zu wählen. Die Wahlprogramme der antretenden Parteien können hierbei eine wichtige Entscheidungshilfe darstellen. In ihnen informieren die Parteien die Wähler darüber, welche Ziele sie in der nächsten Legislaturperiode verfolgen werden. Doch: Kommunizieren die Parteien hierbei auch so verständlich, dass alle Wahlberechtigten sie verstehen können? Diese Frage wurde nun im „Wahlprogramm-Check“ der Uni Hohenheim (in Kooperation mit der Ulmer Kommunikationsberatungsagentur CommunicationLab) untersucht. Vorausgegangen war bereits eine Analyse zur Verständlichkeit der Europawahlprogramme.

Ausgangspunkt der Kommunalwahl-Studie war die Vermutung, dass die unmittelbare Alltagsrelevanz der Kommunalpolitik dazu beitragen sollte, dass die Wahlprogramme zur Gemeinderatswahl verständlicher ausfallen sollten als Programme für Wahlen auf höheren Ebenen (wie beispielsweise der Europawahl). Diese Vermutung konnte durch die Analysen der Uni Hohenheim auch bestätigt werden, wenngleich die Verständlichkeit der Programme noch immer weit von einer allgemeinen Verständlichkeit entfernt ist.

 

Ansprechpartner

Prof. Dr. Frank Brettschneider
Dr. Anikar M. Haseloff
Dipl.-Komm-wiss. Jan Kercher

Universität Hohenheim
Kommunikationswissenschaft
Fruwirthstraße 46
70599 Stuttgart
Tel. 0711-459-22287
komm@uni-hohenheim.de

 

Oliver Haug, M.A.
Geschäftsführer
Communication Lab, Ulm
Kramgasse 1
89073 Ulm
Tel. 0731-153 77 10
info@comlab-ulm.de
http://www.comlab-ulm.de

 

 


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