Nationalratswahl 2017: Wahlprogramme sind für Laien oft unverständlich [13.10.17]
Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim untersuchen zusammen mit dem H&H CommunicationLab sowie wikopreventk Wahlprogramme auf formale Verständlichkeit und Sprache. Bandwurmsätze mit bis zu 51 Wörtern (Grüne und ÖVP), Wortungetüme wie „Untersuchungsaus-schussverfahren“ (Grüne) oder Fachbegriffe wie „Valorisierung“ (FPÖ), „Disconnect Weeks“ (ÖVP) und „One-Stop-Shop“ (Grüne, SPÖ und ÖVP): Die Wahlprogramme der Parteien sind im Durchschnitt für viele Laien unverständlich. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse von Kommunikationswissenschaftlern der Universität Hohenheim in Stuttgart sowie ihrer Studienpartner. Allerdings: Die Programme zur Bundestagswahl 2017 in Deutschland waren noch unverständlicher.
„Damit die Wählerinnen und Wähler eine begründete Wahlentscheidung treffen können, sollten Parteien ihre Positionen klar und verständlich darstellen. Die Wahlprogramme sind dabei ein Mittel, um die eigenen Positionen darzulegen“, sagt der Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim. Er hat mit seinem Team die Wahlprogramme zur Nationalratswahl 2017 in Österreich und zur Bundestagswahl 2017 in Deutschland untersucht.
Das längste Wahlprogramm kommt von der ÖVP (268 Seiten bzw. 51.356 Wörter), das kürzeste von den NEOS (19 Seiten bzw. 1.946 Wörter).
„Verpasste Chance für mehr Transparenz und Bürgernähe“
Mit Hilfe einer Analyse-Software fahnden die Wissenschaftler um Prof. Dr. Brettschneider unter anderem nach überlangen Sätzen, Fachbegriffen, Fremdwörtern und zusammengesetzten Wörtern. Anhand dieser Merkmale bilden sie den „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“, der von 0 (völlig unverständlich) bis 20 (sehr verständlich) reicht.
Im Durchschnitt liegt die Verständlichkeit der Programme zur Nationalratswahl bei 10,2 Punkten. Bei der Bundestagswahl erreichten die Programme der deutschen Parteien lediglich 9,1 Punkte im Schnitt. „Beide Werte sind enttäuschend“, meint Prof. Dr. Brettschneider. „Denn alle Parteien haben sich in den letzten Jahren Transparenz und Bürgernähe auf ihre Fahne geschrieben. Mit ihren teilweise schwer verdaulichen Wahlprogrammen schließen sie jedoch einen erheblichen Teil der Wählerinnen und Wähler aus und verpassen damit eine kommunikative Chance.“
NEOS mit dem formal verständlichsten Programm, die Grünen mit dem formal unverständlichsten Programm
Insgesamt schneidet das Programm der NEOS mit einem Wert von 11,9 am besten ab. Auf dem zweiten Platz folgt die SPÖ mit 11,5 Punkten. Die ÖVP erreicht 10,1 Punkte, die FPÖ 9,8 Punkte. Die Grünen belegen mit 7,7 Punkten den letzten Platz.
„Alle Parteien könnten verständlicher formulieren“, ist Prof. Dr. Brettschneider überzeugt. „Das beweisen gelungene Passagen in den Einleitungen und im Schlussteil. Die Themenkapitel sind hingegen oft das Ergebnis innerparteilicher Expertenrunden. Diesen ist meist gar nicht bewusst, dass die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler ihren Fachjargon nicht versteht. Wir nennen das den ‚Fluch des Wissens’. Zudem nutzen Parteien abstraktes Verwaltungsdeutsch auch, um unklare oder unpopuläre Positionen zu verschleiern. In diesem Fall sprechen wir von taktischer Unverständlichkeit.“
Verständlichkeitshürden schließen Leser aus
„Staff-to-student-Ratio“ (SPÖ), „Gender Budgeting“ (Grüne), „Levelling-up“ (SPÖ), „one-in-one-out“ (ÖVP), „Sunset-Clause“ (ÖVP), „Less-for-Less-Prinzip“ (ÖVP): Die Programme der Parteien enthalten zahlreiche Fremd- und Fachwörter. Vor allem für Leser ohne politisches Fachwissen stellen diese eine große Verständlichkeitshürde dar.
Einen ähnlichen Effekt hätten Wortzusammensetzungen oder Nominalisierungen, so Prof. Dr. Brettschneider. Einfache Begriffe würden so zu Wort-Ungetümen, wie z.B. „Studienplatzfinanzierungsmodell“ (FPÖ), „Entwicklungszusammenarbeitsleistungen“ (ÖVP), „Kinderrechte-Monitoringausschuss“ (Grüne) oder „Mindestsicherungsregelungen“ (Grüne).
Auch zu lange Sätze erschweren das Verständnis. Sätze mit mehr als 30 Wörtern sind keine Seltenheit.
Begriffsanalyse: SPÖ und ÖVP mit fordernder Sprache
Begrifflich stehen die „Menschen“ und „Österreich“ in allen Programmen im Vordergrund. Die SPÖ und die ÖVP verwenden außerdem besonders häufig die Wörter „müssen“ und „mehr“. „Damit verwenden SPÖ und ÖVP eine Sprache, wie wir sie in Deutschland eher von Oppositionsparteien kennen“, sagt Prof. Dr. Brettschneider.
Die meisten Parteien erwähnen sich selbst vergleichsweise selten. Die FPÖ ist eine Ausnahme: Ihr Kürzel ist unter den 100 häufigsten Wörtern ihres Programms vergleichsweise gut sichtbar.
Wahlprogramme aus Sicht von Parteimitgliedern
Wie Parteimitglieder Wahlprogramme wahrnehmen, ist bislang kaum erforscht. Bei einer Umfrage der Universität Hohenheim im Jahr 2010 gaben 828 Mitglieder deutscher Parteien an, vor allem die Kurzversion des Wahlprogramms für ein wichtiges Wahlwerbemittel zu halten. Sie sei nützlicher, besser gestaltet, überzeugender, interessanter und verständlicher als die Langfassung. Nur die Mitglieder der Grünen stuften die Langversion als sehr wichtig ein.
„Fast 50 Prozent der befragten Parteimitglieder gaben an, die Kurzversion ‚ihres‘ Wahlprogramms vollständig gelesen zu haben“, so Prof. Dr. Brettschneider. „Von der Langversion behaupteten das nur 16 Prozent. Zwölf Prozent der Mitglieder gaben aber auch zu, die Langversion noch nicht einmal in Auszügen gelesen zu haben.“
Hintergrund: Die Hohenheimer Wahlprogramm-Analyse
Seit 2009 untersucht das Fachgebiet für Kommunikationswissenschaft, insbesondere Kommunikationstheorie an der Universität Hohenheim unter anderem folgende Fragen: Kommunizieren die Parteien in ihren Wahlprogrammen so verständlich, dass die Wahlberechtigten sie verstehen können? Welche Verständlichkeits-Hürden finden sich in den Wahlprogrammen? Und welche Themen und Begriffe dominieren in den Programmen?
Inzwischen haben die Wissenschaftler mehr als 600 Landtags- und Bundestagswahlprogramme analysiert. Möglich werden diese Analysen durch die Verständlichkeits-Software „TextLab“. Die Software wurde von der Ulmer Agentur H&H CommunicationLab und von der Universität Hohenheim entwickelt. Sie berechnet verschiedene Lesbarkeitsformeln sowie Textfaktoren, die für die Verständlichkeit relevant sind (z.B. Satzlängen, Wortlängen, Schachtelsätze und den Anteil abstrakter Wörter).
Aus diesen Werten setzt sich der „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ zusammen, der die Verständlichkeit der Programme und Texte auf einer Skala von 0 (völlig unverständlich) bis 20 (sehr verständlich) abbildet. Zum Vergleich: Doktorarbeiten in Politikwissenschaft haben eine durchschnittliche Verständlichkeit von 4,3 Punkten. Radio-Nachrichten kommen im Schnitt auf 16,4 Punkte, Politik-Beiträge überregionaler Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt oder der Süddeutschen Zeitung auf Werte zwischen 11 und 14.
Kontakt
Prof. Dr. Frank Brettschneider, Universität Hohenheim, Fachgebiet Kommunikationswissenschaft insb. Kommunikationstheorie, T 0711 459 24030, E frank.brettschneider@uni-hohenheim.de