Wahlprogramm-Check: Parteien formulieren noch unverständlicher als 2009  [26.08.13]

Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim analysieren Wahlprogramme auf formale Verständlichkeit

Bandwurmsätze mit bis zu 71 Wörtern (LINKE), Wortungetüme wie „Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz“ (FDP) oder Fachbegriffe wie „Comprehensive Test Ban Treaty“ (Piratenpartei): Die Wahlprogramme der Parteien sind heute im Durchschnitt noch unverständlicher als bei der letzten Bundestagswahl. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse von Kommunikationswissenschaftlern der Universität Hohenheim. Bereits 2009 schnitten viele Wahlprogramme nur wenig besser ab als politikwissenschaftliche Doktorarbeiten.

Die Grünen haben zugelegt: Mit 82.746 Wörtern ist ihr Wahlprogramm rund 20.000 Wörter länger als bei der letzten Bundestagswahl und etwa doppelt so umfangreich wie das Programm der übrigen untersuchten Parteien.

„Die formale Verständlichkeit des Mammutwerks hat dagegen stark gelitten“, so Prof. Dr. Frank Brettschneider, Leiter des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft insb. Kommunikationstheorie an der Universität Hohenheim. „2009 erzielten die Grünen in unserer Untersuchung einen passablen Wert. Im Vergleich mit anderen Parteien schnitten sie sogar am besten ab. Inzwischen ist aber auch ihr Programm in großen Teilen vor allem für Expertinnen und Experten verständlich. Allerdings lassen auch die Wahlprogramme der anderen Parteien in Sachen Verständlichkeit zu wünschen übrig.“

 

„Verpasste Chance für mehr Transparenz und Bürgernähe“

Mit Hilfe einer Analyse-Software fahnden die Wissenschaftler um Prof. Brettschneider unter anderem nach überlangen Sätzen, Fachbegriffen, Fremdwörtern und zusammengesetzten Wörtern. Anhand dieser Merkmale bilden sie den „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“, der von 0 (völlig unverständlich) bis 20 (sehr verständlich) reicht.

Im Durchschnitt ist die Verständlichkeit der Bundestagswahlprogramme mit 7,7 Punkten im Vergleich zu 2009 noch gesunken. Damals lag der Mittelwert bei 9,0 Punkten. Zum Vergleich: Politikwissenschaftliche Doktorarbeiten erzielen durchschnittlich einen Wert von 4,7. Die Politik-Beiträge in der Bild-Zeitung liegen bei 16,8.

„Das ist enttäuschend“, urteilt Prof. Dr. Brettschneider. „Denn alle Parteien haben sich in den letzten Jahren Transparenz und Bürgernähe auf ihre Fahne geschrieben. Mit ihren teilweise schwer verdaulichen Wahlprogrammen schließen sie jedoch einen erheblichen Teil Wähler aus und verpassen damit eine kommunikative Chance.“

 

Piratenpartei verwirrt mit Insider-Begriffen, Union und Linke verbessern sich

Gegen den Trend konnten die Union und die Links-Partei ihren Verständlichkeits-Wert im Vergleich zur letzten Bundestagswahl steigern. Insgesamt schneide das Programm von CDU/CSU mit einem Wert von 9,9 diesmal im Vergleich noch am besten ab, so Prof. Dr. Brettschneider. Die Grünen (8,4) sind auf Rang zwei abgerutscht. Verschlechtert haben sich auch die Werte der SPD (7,3) und der FDP (7,3). Am unverständlichsten sei das Programm der Piratenpartei (5,8). Ein Grund: Besonders viele englische Wörter und Insider-Begriffe wie z.B. „Comprehensive Test Ban Treaty“ oder „Privacy-by-Design“.

„Alle Parteien könnten verständlicher formulieren“, ist Prof. Brettschneider überzeugt. „Das beweisen gelungene Passagen in den Einleitungen und im Schlussteil. Auch die Kurzfassungen der Wahlprogramme schneiden bei allen Parteien erheblich besser ab. Die Langfassungen sind oft Ergebnis von innerparteilichen Expertenrunden. Diesen ist meist gar nicht bewusst, dass die Mehrheit der Wähler ihr Fachchinesisch nicht versteht. Wir nennen das den ‚Fluch des Wissens’. Zudem nutzen Parteien abstraktes Verwaltungsdeutsch aber auch um unklare oder unpopuläre Positionen absichtlich zu verschleiern. In diesem Fall sprechen wir von taktischer Unverständlichkeit.“

 

Verständlichkeitshürden schließen Leser aus

„Sharing Community“ (Union), „Substitutionstherapie“ (Linke) oder „Marktradikalisierung” (SPD): Die Programme aller Parteien enthalten eine Vielzahl von Fremd- und Fachwörter, die häufig ohne Erklärung im Text verwendet werden. Vor allem für Leser ohne politisches Fachwissen oder ohne akademische Ausbildung stellen diese eine große Verständlichkeitshürde dar.

Einen ähnlichen Effekt hätten Wortzusammensetzungen oder Nominalisierungen, so Prof. Dr. Brettschneider. Einfache Begriffe würden so zu regelrechten Wort-Ungetümen, wie z.B. „Bundes-Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz“ (Grüne) oder „Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz“ (FDP).

„Auch zu lange Sätze erschweren das Verständnis – vor allem für Wenig-Leser. Sätze sollten möglichst nur jeweils eine Information vermitteln“, erklärt Claudia Thoms, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft. „Der längste Satz findet sich im Programm der Links-Partei mit 71 Wörtern. Aber auch bei allen anderen Parteien tauchen überlange Sätze mit mehr als 50 Wörtern auf. Sätze über 30 und 40 Wörter waren keine Seltenheit.“

 

Begriffsanalyse: Piratenpartei und Links-Partei kreisen um sich selbst

Begrifflich stehen die „Menschen“ in allen Programmen im Vordergrund. Zum Teil sticht dieses Wort noch deutlicher hervor als beispielsweise „Deutschland“. Die Oppositionsparteien verwenden außerdem besonders häufig die Wörter „müssen“ und „sollen“.

„Auffällig ist, dass sich die Linke und die Piratenpartei in ihrem Programm besonders häufig selbst nennen“, sagt Prof. Dr. Brettschneider. „2009 war diese Art der Selbstbeschäftigung vor allem typisch für die FDP. Diesmal verzichtet sie weitgehend darauf, ihren Parteinamen im Programm zu nennen. Häufiger taucht jetzt die Bezeichnung ‚Liberale’ auf.“

Den größten Raum nehmen die Themen Außen- und Sozialpolitik ein. Sie rangieren bei allen Parteien auf den ersten drei Plätzen. Gleichzeitig fanden die Forscher hier die unverständlichsten Textpassagen. Lediglich bei der Piratenpartei nimmt die Justiz- und Rechtspolitik am meisten Raum ein.

 

Hintergrund: Der Hohenheimer Wahlprogramm-Check

Die Wahlprogramme sind ein Kommunikationsmittel der Parteien, um die eigenen Positionen darzulegen. Seit 2009 untersucht das Fachgebiet für Kommunikationswissenschaft insb. Kommunikationstheorie an der Universität Hohenheim im „Wahlprogramm-Check“ in Kooperation mit der Ulmer Agentur für Verständlichkeitsmessung H&H CommunicationLab GmbH u.a. folgende Fragen: Kommunizieren die Parteien in ihren Wahlprogrammen so verständlich, dass alle Wahlberechtigten sie verstehen können? Weisen die Programme eher eine positive oder negative Tonalität auf? Und welche Themen und Begriffe dominieren in den Programmen?

Derzeit arbeitet das Team um Prof. Dr. Brettschneider an Analysen der Programme für die Landtagswahlen in Bayern und Hessen.

Text: Leonhardmair

Kontakt für Medien:

Prof. Dr. Frank Brettschneider, Universität Hohenheim, Institut für Kommunikationswissenschaft Tel.: 0711/459-24030, E-Mail: frank.brettschneider@uni-hohenheim.de

Claudia Thoms, Universität Hohenheim, Institut für Kommunikationswissenschaft Tel.: 0711/459- 24031, E-Mail: claudia.thoms@uni-hohenheim.de


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