Umfrageergebnisse drei Tage vor der Wahl: Hohenheimer Forscher befürchtet keine Wähler-Beeinflussung  [11.09.13]

Prof. Dr. Frank Brettschneider, Leiter des Lehrstuhls Kommunikationswissenschaft (insb. Kommunikationstheorie) an der Universität Hohenheim, kommentiert den ZDF-Vorstoß

Prof. Dr. Frank Brettschneider

Schluss mit Zurückhaltung: Erstmals seit den 1970er Jahren will das ZDF drei Tage vor dem Wahlsonntag ein „Politbarometer“ mit aktuellen Umfrageergebnissen ausstrahlen. Bisher hatten sich die öffentlich-rechtlichen Sender freiwillig verpflichtet, eine Woche vor der Wahl darauf zu verzichten. Die ARD hält weiter an der Regelung fest, um eine Beeinflussung von Wählern zu vermeiden. Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim hält diese Sorge hingegen für unbegründet. Der Einfluss von Wahlumfragen auf das Wahlergebnis sei geringer als viele Kritiker annähmen. Die Ergebnisse spielten vor allem für taktische Wählerinnen und Wähler eine Rolle. Diese vergleichsweise kleine Gruppe sei überdurchschnittlich politisch interessiert, formal höher gebildet und deshalb auch in der Lage, kritisch mit Informationen aus den Medien umzugehen.

Wählerinnen und Wähler entscheiden sich heute kurzfristiger für eine bestimmte Partei als bei zurückliegenden Bundestagswahlen. Überraschungen auf den letzten Metern des Wahlkampfs sind deshalb nicht ausgeschlossen. „Diese Entwicklung schlägt sich auch in der Medienberichterstattung nieder“, attestiert Prof. Dr. Frank Brettschneider. „Unsere Untersuchungen zeigen, dass sich die Berichterstattung über Umfrageergebnisse im Vorfeld von Wahlen seit 1980 mehr als verzehnfacht hat.“

 

Kommunikationswissenschaftler fordert „Qualität und Vielfalt statt Verzicht“

Das ZDF will vor der Bundestagswahl 2013 erstmals von der freiwilligen Selbstverpflichtung abrücken, in den letzten Wahlkampftagen keine aktuellen Umfrageergebnisse zu veröffentlichen. Das kündigte Intendant Dr. Thomas Bellut bereits im Mai 2013 gegenüber dem Medienrat in Mainz an. Prof. Dr. Brettschneider kann diese Entscheidung nachvollziehen. „Aufgabe von Journalisten sollte es sein, Informationen zu veröffentlichen – nicht sie zurückzuhalten. Die Umfrageergebnisse kurz vor der Wahl spiegeln die Wahlabsicht der Befragten genauer wider als ältere Daten. Außerdem liegen die aktuellen Umfrageergebnisse der Institute Journalisten und Politikern ja vor. Nur der Bevölkerung als Souverän werden sie bislang vorenthalten. Das ist schon eine kuriose Situation“, urteilt Prof. Dr. Brettschneider.

Aus Sicht des Wissenschaftlers sollte die Diskussion nicht über Verzicht oder gar Verbote geführt werden, sondern über die Qualität von Umfrageergebnissen und der journalistischen Berichterstattung darüber. Oft würden Artikel lediglich auf „jüngste Umfrageergebnisse“ Bezug nehmen, ohne genaue Angaben zu Quelle und Methode zu machen. „Nicht jede Umfrage ist methodisch sauber. Über fragwürdige Umfragen sollten Journalisten gar nicht erst berichten. Es gibt in Deutschland ausreichend viele seriöse und unabhängige Umfrageinstitute. Diese Vielfalt ist der beste Schutz vor Manipulation. Es bleibt zu hoffen, dass die ARD die von ihr beauftragten Umfrageergebnisse genauso wie das ZDF bis zum Wahltag veröffentlicht – und interessierten Bürgern so eine zweite seriöse Quelle liefert“, so Prof. Dr. Brettschneider. Neben Vielfalt fordert Prof. Brettschneider sowohl von Journalisten als auch von Demoskopen Transparenz. „Methodische Informationen wie die Zahl der Befragten, der Befragungszeitpunkt, der Wortlaut der Fragen, die Befragungsmethode (schriftlich, telefonisch, online, Haustür) oder die statistische Fehlerspanne sollten mit den Ergebnissen veröffentlicht werden. Seriöse Institute wie infratest dimap oder die Forschungsgruppe Wahlen machen dies auf ihrer Homepage. Journalisten könnten diese Informationen zumindest in den Online-Ausgaben ihrer Medien mitliefern – als demoskopisches Impressum.“

 

Untersuchungen belegen Mitläufereffekt von Umfragen nicht

Die Angst, Umfrageergebnisse könnten die Wähler beeinflussen, sei in europäischen Ländern weit verbreitet, so der Wahl-Forscher. Länder wie Frankreich, Italien oder Polen verböten die Veröffentlichung aus diesem Grund eine oder sogar mehrere Wochen vor der Wahl komplett. In den USA kenne man diese Skepsis dagegen kaum, so Prof. Dr. Brettschneider. „US-amerikanische Medien liefern täglich bis stündlich neue Daten – bis das letzte Wahllokal geschlossen hat.“

„Einflüsse von Umfrageergebnisse auf das Wahlverhalten, im Sinne eines Mitläufer- oder eines Mitleidseffekt, konnten wissenschaftliche Untersuchungen bisher nicht eindeutig nachweisen“, betont Prof. Dr. Brettschneider. „Sehr gut untersucht ist zum Beispiel der so genannte Western-Voting-Effekt in den USA. Aufgrund der unterschiedlichen Zeitzonen gehen Wähler an der Westküste mehrere Stunden später zur Wahl als an der Ostküste. Allerdings stimmen sie nicht anders ab, wenn sie von den Stimmauszählungen der Ostküste erfahren haben.“

 

Taktische Wähler in Deutschland nutzen Umfrageergebnisse

Nachgewiesen sei, dass drei Viertel der Bevölkerung Berichterstattung über Umfrageergebnisse wahrnehmen. Dennoch gebe ein Großteil der befragten Personen an, sich bei der Wahl nicht von Umfrageergebnissen beeinflussen zu lassen, so Prof. Dr. Brettschneider. Eine Ausnahme sei eine vergleichsweise kleine Gruppe taktischer Wähler. „Es handelt sich hierbei nahezu ausschließlich um formal höher gebildete Personen mit eindeutiger Parteipräferenz. Taktische Wähler interessieren sich überdurchschnittlich stark für Politik und ziehen dabei mehrere Informationsquellen heran. Es sind also Personen, die für Manipulation besonders wenig anfällig sind.“

Ein Beispiel für taktisches Wahlverhalten, sei der sogenannte „Fallbeileffekt“. „Die Fünf-Prozent-Hürde ist eine Besonderheit des deutschen Wahlsystems, die taktisches Wählen auslösen kann“, erklärt der Kommunikationswissenschaftler. „Umfrageergebnisse können einen Hinweis darauf geben, dass eine Partei diese Hürde nicht schafft und somit nicht in den Bundestag einzieht. Anhänger dieser Partei können diese Information taktisch nutzen, um ihre Stimme einer anderen Partei zu geben, mit deren Positionen sie sich am zweit stärksten identifizieren. Auf diese Weise ist die Stimme nicht verschenkt.“

Deute sich in Umfragen hingegen an, dass eine Partei die Fünf-Prozent-Hürde nur knapp erreiche, könne sie unter Umständen mit sogenannten „Leihstimmen“ des größeren Koalitionspartners rechnen, so Prof. Dr. Brettschneider. „Zuletzt war dies bei der Landtagswahl in Niedersachsen zu beobachten. Das überraschend gute Abschneiden der FDP lässt darauf schließen, dass CDU-Anhänger ihre Zweitstimme der FDP gegeben haben, weil sie befürchten mussten, der kleine Koalitionspartner könnte es nicht in den Landtag schaffen. Dieser Effekt dürfte auch jetzt bei der Bundestagswahl eine Rolle spielen. Wir haben ihn auch bei früheren Bundestagswahlen beobachtet – vor allem 1983 und 1994.“ Brettschneider weiter: „Der in der Öffentlichkeit verwendete Begriff „Leihstimmen“ ist allerdings unangemessen. Nicht Parteien verleihen Stimmen an andere Parteien. Sondern Wählerinnen und Wähler verleihen stimmen an Parteien; sie sind der Souverän.“

Text: Leonhardmair / Lembens-Schiel

Kontakt für Medien:

Prof. Dr. Frank Brettschneider, Universität Hohenheim, Institut für Kommunikationswissenschaft insb. Kommunikationstheorie, Tel.: 0711/459-24030, E-Mail: frank.brettschneider@uni-hohenheim.de


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